Perspektiven auf den öffentlichen Raum im Kontext der Paarbeziehung 

9.11.2023

Möglichkeitsräume, Teilhabe, Zugang
Die räumliche Dimension spielt auch in Beziehungen eine wichtige, wenn oft unbeleuchtete Rolle.

In meinem Quartier: Kürzlich habe ich am Austauschforum Migration, Diversität beim Planen und Bauen des öffentlichen Raums, der Fachstelle für Migrations- und Rassismusfragen der Stadt Bern teilgenommen. Daraus entstanden ist dieser Text, mit grosser Dankbarkeit für die Inspiration und Möglichkeit kollektiven Denkens zu diesen Themen.

Wie ist die Stadtplanung deiner Stadt auf Migration ausgerichtet?

„Perspektiven auf den öffentlichen Raum: Ein Ort von Begegnung & Interaktion, ein Ort von Einschluss & Ausschluss, ein Ort von Konsum & Austausch, ein Ort von politischen Meinungsäusserungen, ein Ort nicht privater Handlungen.

All dies ist nicht konfliktfrei. Und gleichzeitig geht oft nicht.“ Meint Philippe Koch, Professor an der ZHAW mit Schwerpunkt Stadtpolitik und urbane Prozesse.

Die Vorstellung, öffentliche Räume zu gestalten ohne Konflikte, sei eine Illusion, so Philippe Koch. Die Frage dabei sei wesentlich, wie wir mit Konflikten umgehen. Ein öffentlicher Raum sei ein Ort, der immer wieder neu gemacht wird, neu gedacht und neu geplant wird.

Neu entstehende Parkanlage Stadt Bern – Holligen Quartier

So muss auch eine Beziehung immer wieder eine neue werden können, sich verändern, sich wandeln. In Lebenszyklen und Lebenswandel veränderbar sein und bleiben. Trotz und bei Herausforderungen und bereichernden Geschehnissen.

Sense of Place 
Räume können unterschiedlich wahrgenommen werden. Ein Raum, wo sich etwas zum Ausdruck bringen kann. Ein Raum, wo sich Öffentlichkeit zum Ausdruck bringt, nicht nur durch Regeln, sondern durch Zusammenspiel.

Ein Sense of Place. Eine Idee des öffentlichen Raumes, der sehr unterschiedlich sein kann.

In der Beziehung entstehen ebenfalls Räume, wo sich die eigene Individualität und das Gemeinsame, sowie Begrenzung, Verbundenheit und Offenheit zum Ausdruck bringen kann.

  • Wie und wo ist der Raum, wo ich Autonomie leben kann
  • Was für ein Raum braucht es für Bindung in der Beziehung?
  • Wie gestalten wir zusammen diese Räume? 
  • Wo hat jede einzelne Person ihren Raum
  • Wie gross ist dieser?
  • Wo und wie bespielen wir einen Ort, den wir miteinander teilen?

Was ist die gerade richtige Dosis Beziehungsfreiraum?

Für die planerische Perspektive auf einen Prozess, braucht es für eine Stadtplanung nebst der Planung, den Betrieb und eine Gestaltung. Ähnlich wie in einer Beziehung ist ein Zusammenspiel dieser Elemente in unterschiedlichen Phasen notwendig für ein gutes Zusammenleben. Vielleicht braucht es eine gewisse Anpassung, bevor die Beziehung sich weiter gestaltet und entwickelt, um dann wieder in die weitere Planung zu gehen und das Nächste zu gestalten.

  • Was ist die gerade richtige Dosis Beziehungsfreiraum?
  • Wann machen wir Was zusammen?
  • Wie wollen wir diesen Abend gestalten, zusammen, oder getrennt? 
  • Wo möchten wir heute den Akzent setzen? 
  • Worauf fokussieren wir morgen? 
  • Was konnte sich in der vergangenen Woche zum Ausdruck bringen in unserer Beziehung? Bei dir selbst? Bei deiner Partnerin, Partner?
  • Wie bin ich in Verbindung als Individuum im grossen Ganzen? 
  • Wo kann sich mein Wesenskern zum Ausdruck bringen? 
  • Was braucht es dafür? Wie fühle ich mich dabei? Was für eine Wahrnehmung habe ich in meinem Körper?
  • Wie gross muss mein Raum sein, damit ich mich wohl fühle? 
  • Wie steht es um unser Zusammenspiel in unserer sexuellen Liebesfähgikeit?
  • Was ist unser Gefühl für unseren Ort? Können wir uns vorstellen, wie dieser Raum ausschaut? Haben wir innere Bilder davon?
  • Wo erlebe ich meinen Ort, meinen Sense of Place in der partnerschaftlichen Beziehung? Sprechen wir darüber? Tauschen wir uns aus?
  • Weiss ich, oder denke ich zu wissen, was meine Partnerin, mein Partner sich wünscht?
  • Frage ich nach?

Nicht jeder Raum hat dieselbe Atmosphäre. 

Was macht sie aus, wen schliesst sie aus, wen ein?

  • Welcher Duft beruhigt, fasziniert? 
  • Welche Stimmung braucht es, damit ein angenehmes Körpergefühl entsteht?
  • Was für Klänge, oder Geräusche ermöglichen schöne Gedanken? 

Atmosphären in Bezug auf Familien-, Betriebsklima, wird im Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I und II (Von der Schlippe und Schweitzer) als die Gesamtheit der Stimmungen, die in einem sozialen System vorhanden sind beschrieben. Sie bezeichnen ein kollektiv geteiltes, anhaltendes kollektives Erleben einer Gesamtsituation im System.

Komplementarität von Räumen kann auch in den Kontext von Beziehungen gestellt werden. Sie sind sich gegenseitig ergänzend, oder wechselseitig. Sie erscheinen unabhängig, vielleicht sogar widersprüchlich. Complementum, lat. bedeutet Erfüllung, Ergänzung. Es kann auch im Sinne von bedürfnis-, oder motivbefriedigend, angeschaut werden. Das Konzept der komplementären Beziehungsgestaltung oder auch motiv- oder bedürfnisorientierte Beziehungsgestaltung wurde von der Berner Arbeitsgruppe um Grawe entwickelt (Caspar, 1996; Caspar & Grawe, 1982).

Inwiefern suchen wir Erfüllung, oder Ergänzung im Gegenüber. Wie werden unsere Grundbedürfnisse erfüllt. Wie widersprüchlich, oder ergänzend werden öffentliche Räume wahrgenommen? Wie sind diese gestaltet? Und wo erfüllen sie die Vorstellungen und Erwartungen der sie nutzenden Menschen.

Auch zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht. Entscheidend für einen konstruktiven Kommunikationsablauf ist dabei, dass die jeweiligen Verhaltensweisen sich gegenseitig bedingen und ergänzen. 

Damit etwas geleistet werden kann, muss es erkennbar sein

Erkennbarkeit in der Beziehung kann Aussprache und Benennung, oder sichtbar machen von etwas sein. Eine Sache kommt ins Bewusstsein, die vorher unerkannt war. Wie zugänglich sind wir in unserem Alltag? In unserer Kommunikation? In unserer Liebe? Können wir darüber verhandeln?

Gemäss Kantor und Lehr wird in Familien täglich um die Verwirklichung der drei grossen Zieldimensionen gerungen: 

Target Dimensions

  • Wirksamkeit – Power, Wie können unterschiedliche Anliegen der Mitglieder individuell wie kollektiv verwirklicht werden? Selbstwirksamkeit, Entscheidungen, Macht- und Hierarchieverteilung
  • Sinn – Meaning, Wie werden die eigenen Werte in grosstmögliche Übereinstimmung gebracht? Weltanschauungen, Ideologien Gemeinsamen Sinn
  • Bindung – Affect, Wie kann das Bewusstsein und Gefühl von Verbundenheit erlebt werden?

Einfacher kann es sein, über die Zugangsdimensionen Acces Dimensions, zur Zieldimension zu finden.

  • Zeit – Time, Wie Menschen mit allmählichen Umbrüchen umgehen, was sie gleichzeitig und was sie nacheinander tun.
  • Raum- Space, Wie viel Platz Menschen einnehmen, wie sie begrenzten Raum untereinander aufteilen, wie Menschen sich im Raum zueinander platzieren
  • Energie – Energy, Was Menschen antreibt und am Laufen hält

Ein öffentlicher Raum braucht Erkennbarkeit, Zugänglichkeit, Aneigenbarkeit und Verhandelbarkeit. Es braucht die Bereitschaft sich auf Konflikte einzulassen, es braucht Ressourcen sich mit Themen auseinanderzusetzen und die Beteiligung für einen Diskurs.

Auch in Paarbeziehungen gelingen diese besser wenn die Bereitschaft vorhanden ist, Dinge aus verschiedenen Perspektiven anzuschauen, unterschiedliche Sichtweisen und Wahrnehmungen zu erkennen, Konflikte miteinander auszutragen und Lösungen zu finden. Ressourcen sind nötig, einander die Zeit zu schenken zuzuhören und Wertschätzung auszusprechen. Und es braucht von beiden Seiten eine Beteiligung sich darüber auszutauschen.

Verwendete Literatur & Quellen:

Referat Prof. Dr. Philippe Koch, ZHAW Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen, am Austauschforum Migration, ”Diversität beim Planen und Bauen des öffentlichen Raumes Stadt Bern”, Direktion für Bildung, Soziales und Sport, Fachstelle für Migrations- und Rassismusfragen Stadt Bern, 2023
Lehrbuch Psychologie Springer, Beziehung und Motivation
Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I und II, Von der Schlippe A., Schweitzer J., 3. Auflage 2016
Stangl, W. (2023, 7. November), komplementäre Kommunikation. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik